Staatsministerin a. D. Ruth Wagner, Vizepräsidentin des Hessischen Landtags,
Rede zur Präsentation des Buches von Dr. Heidi Fogel, am 14. November 2004,in der Heinrich-Böll-Schule in Rodgau, Nieder-Roden
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(Anrede,) zunächst möchte ich mich bei den Herausgebern, Herrn Lach und dem Förderverein zur Aufarbeitung der Geschichte des Lagers Rollwald und vor allem bei der Autorin, Frau Dr. Heidi Fogel bedanken, dass sie die Arbeit auf sich genommen haben, die Geschichte einer Strafvollzugseinrichtung in der NS-Zeit zu dokumentieren, sie als Teil der Geschichte dieser Region und unseres Landes zu begreifen und im Zusammenhang der gesamt Nazi-Diktatur zu sehen. Herr Lach weist in seinem Vorwort darauf hin, dass der Anstoß zu dieser historischen Spurensuche von Jugendlichen ausging, die im Rahmen der "Aktion Sühnezeichen" sich mit der Geschichte des Lagers Rollwald befassten |
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und zum Gedenken an
die Toten aufriefen. Eine Haltung, eine Einsicht und ein Verhalten von
jungen Menschen, die offensichtlich begriffen haben, dass Vergangenheit
nicht vergeht, sondern erinnert werden muss, dass "Erinnerung die
Voraussetzung für Versöhnung" ist, wie Bundespräsident Richard von
Weizsäcker einmal so treffend formuliert hat.
Die Entstehung des Straflagers Rollwald wird von Frau Fogel im Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Erschließungsprogramms für den Rodgau und den wirtschaftlichen und siedlungspolitischen Maßnahmen der Landesregierung und als Teil der Lokalgeschichte dargestellt. In akribischer Auswertung zahlreicher Dokumente von Strafvollzugsakten, Anweisungen der Generalstaatsanwaltschaft Darmstadt, Zeitzeugenbefragung von Gefangenen, Recherchen über die Lagerbeamten, die Arbeit und Lebensbedingungen im Lager, wird ein sehr konkretes und eindringliches Bild der Strafvollzugseinrichtung im SS-Unrechtsstaat gezeichnet. Frau Fogel schreibt: "Im Lager Rollwald waren Kleinkriminelle und Gewaltverbrecher inhaftiert, ebenso aber auch politische Gegner des NS-Staates, Nichtsesshafte und Bettler, Kriegsdienstverweigerer, die aus religiöser Überzeugung den Waffendienst verweigert hatten, homosexuelle Männer. Und während des Krieges dann auch Tausende von Ausländer, die gegen die deutsche Besatzungsmacht in ihren Heimatländern gekämpft hatten. In den Einzelschicksalen der im Lager Rollwald Inhaftierten spiegelt sich die politische Willkür der NS-Machthaber und die Folgen gravierender Verletzung rechtsstaatlicher Grundwerte durch eine gleichgeschaltete Justiz". Das Lager Rollwald war kein Konzentrationslager, aber auch nicht nur ein Gefängnis für Kriminelle. Die Strafvollzugsordnung die 1934 in Kraft gesetzt wurde, setzte auf Abschreckung und verlangte die Haftbedingungen so zu gestalten, dass die Gefangenen durch harte Arbeit und bedingungslose Unterordnung von weiteren Straftaten abgehalten werden sollten. Im Vergleich zum rechtsstaatlichen Strafvollzug in einer Demokratie stellt Frau Fogel fest, dass etwa ein Drittel der deutschen und österreichischen Gefangenen aus der Sichtweise heutigen Rechtes nicht als Straftäter anzusehen sind; es waren demnach Hunderte gesellschaftlich ausgegrenzter sowie politisch und religiös Verfolgter in dem Gefangenlager Rodgau inhaftiert. Die Autorin hat mit dieser beeindruckenden Arbeit nicht nur eine "Fallstudie" geleistet, wie sie sagt, sondern einen Beitrag zur Geschichte des Strafvollzugs im NS-Staat, die bisher noch nicht ausreichend erforscht ist. Solche Arbeiten sind umso wichtiger, als der Aufbau des nationalsozialistischen "Rechtsstaates" und die Etablierung des Rechtes der deutschen Volksgemeinschaft eine der entscheidenden Voraussetzungen der Nazi-Diktatur waren. Nicht umsonst hat General-Oberst Ludwig Beck, einer der Männer des 20. Juli 1944, schon sehr früh in einer seiner Denkschriften von der notwendigen "Wiederherstellung der Majestät des Rechts" gesprochen. Damit leistet auch dieses Buch Erinnerungsarbeit, die immerwährend notwendig ist. Aber wie Guido Knopp dieser Tage sagte, "Erinnerung ist ohne Wissen nicht möglich" und deshalb ist dieses Buch so wichtig. Heute, am Volkstrauertag, an dem wir um unsere Toten trauern, um alle Toten, diejenigen, die in zivilen Zeiten ihr Leben beendeten, aber auch um die Toten der Kriege, die Soldaten beider Seiten und die Opfer des Holocaust, wie der Vertreibung und der Menschen, die im Bombenkrieg umgekommen sind. Dass wir uns diese Zeit als einzelne Menschen nehmen, aber auch als Volk, ist außerordentlich wichtig. Die Erinnerung an die Opfer der Kriege, an die Opfer von Folter und Mord, an die Opfer der Gewalt und Terror, ist notwendig für die eigene Selbstbesinnung und für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tod. Deshalb finde ich es nicht nur gedankenlos und vergangenheitsvergessen, wenn der Weihnachtsrummel schon vor dem Totensonntag beginnt. Es scheint so, als hätten viele Menschen die "Unfähigkeit zu trauern", wie Mitscherlich unsere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einmal nannte, noch immer nicht überwunden. In diese Trauer über unsere eigenen Toten muss aber die Frage nach der Schuld in Deutschland immer auch mit einbezogen werden. Wer die eigenen Toten des Zweiten Weltkrieges betrauert, darf nicht über den Nationalsozialismus schweigen. Er darf nicht darüber schweigen, dass Deutsche im Namen aller Deutschen andere Länder überfallen und mit Krieg und Verwüstung überzogen haben. Der darf nicht darüber schweigen, dass Deutsche im Namen aller Deutschen Menschen anderer Haut- und Haarfarbe, anderer Religion, anderer Kultur, anderer Sprache, das Recht auf Würde und das Recht auf Leben verwehrt haben. Wer von den deutschen Kriegstoten im Zweiten Weltkrieg spricht, der muss über die Toten der Länder reden, die die Deutschen überfallen haben und über die Toten, die im Schatten des Zweiten Weltkrieges im Namen Deutschlands mit bürokratischer Perfektion in organisierten Mordfabriken planmäßig umgebracht wurden. Und hier vermischt sich unsere Trauer mit der Frage nach der Schuld. Denn, dass diese unvorstellbaren Verbrechen von Deutschen im Namen aller Deutschen begangen werden konnten, hat ja einen ganz einfachen Grund: Die Mehrheit der Deutschen hat damals nichts gegen diese Verbrechen unternommen. Die Mehrheit der Deutschen hat zugesehen, Beifall geklatscht oder mitgemacht, am Ende sich ängstlich weggedrückt. Die wenigen Deutschen, die den Mördern in den Arm fielen, die Widerstand leisteten, die Verfolgten halfen, blieben einsam, ihre Familien verfielen der Rachsucht des Diktators. Sie wurden verfolgt, aus der Heimat vertrieben, eingekerkert. Die meisten von ihnen wurden ermordet. Und wer von ihnen überlebte, hat es im Nachkriegsdeutschland – und das gilt für beide deutschen Nachkriegsstaaten - nicht leicht gehabt. Denn die, die widerstanden hatten, waren ja eine lebendige Erinnerung an die eigene Schuld. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung begann in der Mehrheit unseres Volkes – West wie Ost – erst nach Jahren der Überwindung von Not, Angst, Hunger und Armut. Nach der Phase der "Scham", von welcher der erste Bundespräsident Theodor Heuß schon 1946 sprach, folgte erst viel später in Auseinandersetzung mit uns, den Söhnen und Töchtern die individuelle Suche nach Schuld und Verantwortung. Und erst da erfolgte bei vielen die Einsicht: Man konnte etwas wissen und man konnte sehr wohl etwas tun. Christa Wolf hat in ihrem berühmten Roman "Kassandra" die Ursachen eines berühmten Krieges und seinen Ablauf geschildert, nämlich des Trojanischen Krieges. Hier heißt es an einer entscheidenden Stelle: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst Euch nicht von den Eignen täuschen!" „Wann beginnt der Vorkrieg?" Wann muss man laut und deutlich „Halt" sagen? Eine schwierige Frage. Sie zu stellen, heißt nicht, über die Generation unserer Väter und Mütter den Stab zu brechen. Wer kann sich anmaßen heute zu entscheiden, wie er und sie selbst in der Situation unserer Eltern entschieden und sich verhalten hätte. Wir in den alten Bundesländern leben seit mehr als fünfzig Jahren in einer gefestigten Demokratie, die uns von den Alliierten geschenkt wurde. Wir haben leicht reden. Ein Urteil über das individuelle Verhalten in einer Diktatur, die wir nicht kennen, steht uns schwerlich zu. (Anrede), aus aktuellem Anlass will ich eine Antwort geben, auf ein Ereignis, das mich in den letzten Tagen sehr betroffen gemacht hat. Ich fand es, wie viele von Ihnen sicher auch, schlimm, dass die NPD in den Sächsischen Landtag gewählt worden ist. Nachdem in den letzten Tagen bekannt wurde, dass rechtsradikale Gruppen, die DVU und die NPD und möglicherweise auch die Republikaner, sich zu einer neuen Rechtspartei zusammenschließen wollen und deren Sprecher öffentlich bekunden, dass sie die Bundesrepublik als Rechtsstaat und Demokratie abschaffen wollen, ist es skandalös, dass bei der Wahl des sächsischen Ministerpräsidenten der NPD-Kandidat auch Stimmen demokratisch gewählter Abgeordneter für sich verzeichnen konnte. Den Brandnächten, in denen Städte wie Darmstadt, Frankfurt, Köln, Hamburg, Berlin und Dresden vernichtet wurden, sind vorausgegangen die Brandnacht, in der die Synagogen am 9. November 1938 von Nazis angezündet wurden. Der Etablierung des Nazi-Regimes ging voraus, dass wegen der Schwäche der Demokraten am Ende der Weimarer Republik, sie nur noch wenige verteidigt haben. Deshalb ist die Frage immer wieder neu zu stellen, als Frage an uns alle, ob wir bereit sind, in einem Land für Freiheit und Menschenwürde, für Gewaltenteilung, für die Unabhängigkeit von Gerichten, für eine parlamentarische Demokratie, für Weltoffenheit und Toleranz einzutreten. Das gilt gegenüber Rechtsradikalen, das gilt gegenüber Terroristen, das gilt gegenüber Menschen, die uns ihre Werte und Lebensweisen aufzwingen wollen. Die Lehre aus der Geschichte heißt, sich nicht von den "Eigenen" täuschen zu lassen und für die Freiheit und Menschenwürde jedes Menschen einzutreten. Ich wünsche diesem Buch, den Bürgern die es initiiert haben und der Stadt, dass diese Erinnerungsarbeit ein Betrag zur Versöhnung ist und in die Zukunft hinein wirkt.
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