Der Lagerfriedhof | |||
Text aus der Dokumentation von Heinz Sierian | |||
Ausschnitt-Vergrößerung aus dem Heimatfilm von Lehrer Karl Müller im Jahre 1964 aufgenommen |
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„Heute, so zeigt uns ein
kleiner Rundgang, sind die Baracken wieder bis auf 2 verschwunden und kaum
noch etwas erinnert an diese Zeiten. Oder doch? – Draussen vor der
Siedlung liegt ein kleiner Friedhof. Für 110 Menschen aus dem Lager ist
er zur letzten Ruhestätte geworden, schreibt der Chronist im Frühjahr
1955. 26) Und Karl Müller bemerkt zu
diesem Thema 9 Jahre später:27) „Bis zum Jahre 1944 war
die Sterblichkeit im Lager normal; erst als im Jahre 1944 ein Transport
sehr geschwächter alter Leute eintraf, wuchs die Sterblichkeit sehr an.
Die Toten wurden anfangs in der Gemeinde Nieder-Roden beigesetzt, später
errichtet man in Rollwald selbst einen Friedhof, auf dem 114 Mann beerdigt
wurden. Von den Toten wurden inzwischen einige exhumiert und in ihre
Heimat überführt.“ Nach dem Kriege zeigte sich
nun, dass keine Institution gewillt war, die Unterhaltung des ehemaligen
Lagerfriedhofs und der Grabpflege zu übernehmen, weder der Landrat, noch
der Regierungspräsident, noch das Innen- oder Justizministerium.
Schon gar nicht verpflichtet fühlte sich die Gemeinde
Nieder-Roden, die sich durch die Einrichtung des Lagers in ihrer Gemarkung
schon genügend geschädigt sah. Trotz ihrer damaligen Proteste 28)
hatte man den wertvollen Gemeindewald abgeholzt, eine Entschädigung dafür
hat die Gemeinde nie zu sehen bekommen. Es soll der Schaden durch ein
forstamtliches Gutachten nach dem Kriege auf 1,9 Millionen Deutsche
Markbeziffert worden sein. Dieser Behörden-Auseinandersetzung
über die Kosten für die Unterhaltung des Lagerfriedhofes, verdanken wir
mehrer Schriftstücke. Aus diesem Schriftgut ist zu ersehen, dass
Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden, auf wessen Veranlassung der
Friedhof angelegt worden war. Hierzu hatte der früherer
Leiter des Rollwaldlagers, der ehemalige Justiz-Oberinspektor Karl Ludwig
Stumpf, in einer ausführlichen Stellungnahme vom 4. Juni 1956 dem
Justizminister gegenüber erklärt, der Lagerfriedhof sei auf Betreiben
der Gemeinde Nieder-Roden eingerichtet worden. Sie habe für weitere
Todesfälle aus dem Lager keine Bestattungsmöglichkeiten mehr auf dem
gemeindeeigenen Friedhof gesehen, jedenfalls seien von ihr Schwierigkeiten
gemacht worden. So sei es zur Errichtung des
Lagerfriedhofes gekommen, auf gemeindeeigenem Grund und Boden und nach
Planung durch die Gemeinde. 29) Die Gemeinde aber wollte auf
gar keinen Fall dieses kostenverursachende Erbe des Dritten Reiches
antreten und kämpfte energisch dagegen an. Ihre Argumentation lief darauf
hinaus, dass der Lagerfriedhof im Jahre 1944 allein von der Lagerleitung
gewollt und verlangt worden sei, „weil man in der Bevölkerung kein
Aufsehen über die seit 1944 plötzlich auftretende hohe
Sterblichkeitsziffer erregen wollte.“
Und wörtlich heißt es dann (in Klammern gesetzt) sogar:
„Inzwischen sei das Lager ein KZ geworden“.30) Diese letzte Formulierung das
damaligen Bürgermeisters wird man allerdings nicht als historische
Wahrheit zu bewerten haben. Sie ist offensichtlich als eine überzogene
Abwehrmaßnahme und als Ausdruck der Empörung
darüber zu begreifen, dass man der (damals noch) kleinen Gemeinde
Nieder-Roden etwas anhängen wollte, was sie weder verschuldet und schon
gar nicht veranlasst hatte. Ansonsten ist aber die
Version des Bürgermeisters (Vermeidung von Aufsehen wegen der sich häufenden
Todesfälle im Lager) sicher nicht von der Hand zu weisen. In der
voraufgegangenen Zeit als Lagerexistenz – 1938 bis Mitte 1944 – waren
nämlich insgesamt nur 9 im Lager verstorbene Häftlinge auf dem
Gemeindefriedhof beerdigt worden. 31) Und bei diesen 9 Bestattungen
handelte es sich noch um die Unfallopfer eines einzigen Tages – 14.
Dezember 1941 -; diese 9 Häftlinge waren in der Muna Münster oder auf
der Fahrt dorthin ums Leben gekommen. 32) Im übrigen sind – wie es
scheint regelmäßig – die Leichname von Häftlingen auch an die
Anatomie der Universität Gießen „überwiesen“ worden. 33) Es gibt verschiedene
Zahlenangaben über die auf dem Lagerfriedhof beigesetzten Häftlingstoten.
Das mag daher kommen, dass die Ziffern aus verschiedenen Jahren stammen
und inzwischen durchgeführte Exhumierungen die Zahl der Bestatteten veränderten: |
15. Februar 1954 | Gräberliste für Lagerfriedhof | 99 Tote | ||
Mai 1955 | Zeitungsartikel „Rollwald-Siedlung“ | 110 Tote | ||
1. März 1956 | Schreiben der Gemeinde an den Landrat | 98 Tote | ||
(zu d. Zeit sollen 12 Tote bereits umgebetet gewesen sein) | ||||
14. Januar 1957 | Schreiben
der Gemeinde an den Landrat |
112 Tote | ||
1964 | Zeitungsartikel
„Die Vorgeschichte des Rollwald“ |
114 Tote | ||
1977 | Festschrift des Evangelischen Gemeindezentrums | 128 Tote | ||
Eine einfache – undatierte
– schematische Darstellung (Skizze, kein Plan) des Lagerfriedhofs auf
DIN A 3 34) lässt 116 eingeteilte Grabstellen erkennen, von
denen 110 mit Nummern versehen sind, also wohl als belegt ausgewiesen sein
sollen. Vom Standesamt Rodgau wird
auf persönliche Anfrage eine Gesamtzahl von 156 registrierten Häftlingssterbefällen
des Lagers Rollwald genannt. Die gegenüber der obigen Aufstellung
„fehlenden Toten“ erklären sich zum einen vermutlich aus den
Leichenabgaben an die Universität Gießen; zum anderen ist vielleicht
auch an die Möglichkeit zu denken, dass Verstorbene alsbald nach ihrem
Tode den Angehörigen zur Bestattung am Heimatort übergeben wurden. Bis zum Kriegsende befand sich am Eingang zum Lagerfriedhof unter Glas ein ständig auf dem letzten Stand befindliches maschinenschriftliches Verzeichnis der auf dem Lagerfriedhof bestatteten Häftlinge, unter Beifügung der jeweiligen Grabstellen-Nummer. 35) |
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Fußnoten
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