Feier am Rollwald-Gedenkstein
zum Volkstrauertag am 18. November 2001
     
Kranzniederlegung am Gedenkstein  Der Förderverein zur historischen Aufarbeitung der Geschichte des ehemaligen Lagers Rollwald veranstaltet am 18. November seine diesjährige Gedenkfeier.

Vorsitzender Josef Lach begrüsste unter den zahlreichen Gästen aus Kommunalpolitik und Kirche u.a.auch die Landtagsabgeordnete Dr. Judith Pauly-Bender sowie Bürgermeister Maurer aus der Nachbarstadt Rödermark.
Die Gedenkrede hielt Rodgaus Bürgermeister Thomas Przibilla, ihr folgte eine Ansprache von Pfarrer Markus Nett.
Beide Reden drucken wir nachstehend ab:
 

Seit dem 11. September diesen Jahres scheint der Erinnerung an Vergangenes eine neue Dimension hinzugefügt worden zu sein:

REDE ZUM VOLKSTRAUERTAG
von Bürgermeister Thomas Przibilla, Rodgau

 

Verehrte Anwesende,

seit jetzt über 10 Jahren spreche ich am Volkstrauertag auf den Friedhöfen unserer Stadt und wohne der jährlichen Feier am Gedenkstein des Lagers Rollwald bei.

Im Vordergrund der letzten Jahre stand immer die Trauer um unsere gefallenen Mitbürger und Familienangehörigen, um die vielen Verletzten und Verschollenen der beiden großen Kriege im letzten Jahrhundert.
(Hier) am Gedenkstein des früheren Lagers Rollwald wurde dieses Gedenken ergänzt, dadurch dass wir uns immer gegenwärtig gemacht haben, welche schrecklichen Erfahrungen und in welche Katastrophe ein Staat und eine Gesellschaft steuert, die nicht freiheitlich ist, die in faschistischer Art und Weise Minderheiten unterdrückt, sie ihrer Freiheit, Gesundheit und schließlich auch ihres Lebens beraubt.

Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass allein im Zweiten Weltkrieg über 55 Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten, 35 Millionen Kriegsbeschädigte, 3,6 Millionen Zivilisten getötet und 6 Millionen Menschen jüdischen Glaubens ermordet wurden.

Alles Zahlen, die in ihrer Dimension für uns eigentlich völlig unvorstellbar waren und es auch heute vielleicht noch sind. Vielleicht auch deswegen, weil unsere persönliche Betroffenheit, unsere persönliche Trauer, vielleicht nicht durch diese große und beeindruckende Zahl, sondern durch persönliche Erlebnisse geprägt sind. Geprägt sind durch den Mann, den Bruder, die Kinder, Menschen im Umfeld und Freundeskreis, die gefallen sind oder deren Lebensweg sich durch schwere Verletzungen in entscheidender Weise verändert haben.

Seit dem 11. September diesen Jahres, dem Anschlag unverantwortlicher und verbrecherischer Terroristen auf New York und Washington, scheint der Erinnerung an Vergangenes eine neue Dimension hinzugefügt worden zu sein: Der Krieg in Afghanistan, Milzbrandanschläge in westlichen Großstädten, der Einsatz der Bundeswehr:

Der allseits so sicher geglaubte Frieden in unserem Land, in der westlichen Welt existiert nicht mehr.

Die Fragen woher dieser Haß und diese Gewalt kommen, ob nun aus religiösen, aus sozialen, aus wirtschaftlichen Hintergründen erscheint müßig angesichts der Bedrohung, der wir uns mehr und mehr auch persönlich ausgesetzt sehen.

Und wie immer in diesen Zeiten der Bedrohung, geraten auch in unserer Gesellschaft noch vor kurzer Zeit für selbstverständlich gehaltene Freiheiten und Rechte in Gefahr.

Schwer ist es denjenigen zu begegnen, die mit dem Argument der angeblichen Sicherheit bürgerliche, demokratische und freiheitliche Rechte zurückdrängen wollen. Eine mir manchmal ins perverse überdrehte Diskussion der Sicherheit gegen Freiheit.

Dies kann nicht die Antwort einer demokratischen Gesellschaft auf Verbrechen und Terror sein, denn auf diese weise hätten die Feinde unserer Kultur, unserer Gesellschaftsform, schon gesiegt.

Heute, im Jahre 2001 ist es vielleicht nicht mehr Erinnerung und Mahnung: Der heutige Tag muß auch einer erneuten Standortbestimmung unserer Gesellschaft dienen: Aus der Erfahrung der Vergangenheit lernend Frieden und Ausgleich zu suchen, rechtsstaatliche und freiheitliche Grundsätze hoch zu halten. Die persönliche Freiheit jedes Einzelnen und seine selbstverständlichen Rechte, wenn nötig, zu beschützen und zu wahren.

Denn wir wollen nicht wieder zurück in die dunklen Tage der Barbarei und der Menschenverachtung.

Lassen Sie uns den Volkstrauertag in diesem Jahr sehr ernst, aber entschlossen begehen. Gerade die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche und demokratische Aufbauleistung der Opfer und Leidtragenden des letzten Krieges, der faschistischen Diktatur zu bewahren und zu verteidigen.
 

Teilnehmer an der Gedenkfeier

ganz links der Vorsitzende Josef Lach
     
   
Auf der Grundlage der Wahrheit können wir mit allen Kräften daran arbeiten, dass sich eine dunkle Geschichte wie die des Lagers Rollwald nicht wiederholt.

Ansprache von Pfarrer Markus Nett
zur Rollwald-Gedenkfeier am 18. November 2001

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es gibt eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen, die eine Gedenkfeier wie unsere heutige am Rollwald-Gedenkstein für vollkommen überflüssig halten.

Das Erinnern an die dunkelste Zeit unserer deutschen Geschichte sei unproduktiv, rückwärtsgewandt, selbstquälerisch-masochistisch, würde nur alte Wunden wieder aufreißen, die schon längst vernarbt seien.

Die Vergangenheit könnten wir eh nicht mehr ändern, mit unserer Gegenwart und Zukunft habe sie ohnehin nichts zu tun.

Also großer Schlussstrich, Themawechsel, Tabu?

Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte dazu erzählen, die ich vor exakt 9 Tagen erlebt habe und die belegt, dass die Vergangenheit doch etwas mit der Gegenwart und der Zukunft zu tun hat.

Vor 9 Tagen war der 9. November, Gedenktag der Reichspogromnacht von 1938. Seit drei Jahren gibt es in Dudenhofen eine Gedenktafel, die an das Schicksal der jüdischen Familie Reinhardt erinnert. Das Haus dieser vormals hochgeachteten und beliebten Familie wurde in jener Nacht demoliert, sie wurden aus Dudenhofen vertrieben und später im KZ umgebracht.

Vor der letzten Gedenkfeier kam ein älterer Dudenhöfer Bürger sichtlich bewegt auf mich zu. Ein richtig gestandener Dudenhöfer, tief verwurzelt im Vereinsleben.
Und dann sagt er zu mir: „Herr Pfarrer, seit Jahren schon schleppe ich das mit mir herum, ich muss es jetzt einfach loswerden.

Am Morgen des 10. November 1938, ich war damals 8 Jahre alt, da hat uns unser Lehrer zum demolierten Haus der Familie Reinhardt geführt. Ich werde das Bild nie vergessen, wie die gute Amalie Reinhardt weinend in den Trümmern und Scherben saß. Und dann hat uns der Lehrer gesagt, wir sollten noch ein paar Steine werfen. Ich werde dieses Bild einfach nicht los."

Nach der Gedenkfeier hat er die Geschichte auch Zoya Fiedler, der Enkelin der Reinhardts, erzählt.

Er war sichtlich erleichtert, nachdem er es erzählt hatte. Das schreckliche Bild hat etwas von seiner Macht verloren, wenn ich es mitteile.

Es hat ihn, der völlig schuldlos als Kind dieses unsagbare Unrecht miterlebt hat, befreit, davon zu erzählen.

Dieses Erlebnis hat mir wieder deutlich gemacht, wie wichtig solche Punkte der Erinnerung sind. Dass Erinnerung Zeit braucht, um sie zulassen zu können.

Es ist ganz enorm wichtig, dass wir hier am Rollwald-Gedenkstein stehen, Jahr für Jahr. Dass wir diese Erinnerung zulassen, die Erinnerung an Menschen, die hier unter kaum menschlich zu nennenden Umständen leben und arbeiten mussten und zum Teil auch zu Tode kamen. Wir sind ja hier nicht zusammen, um mit Fingern auf die heute noch lebenden Zeitzeugen zu zeigen und ihnen Vorwürfe zu machen.

Ich wünsche mir inständig, dass es gelingen wird, mit denjenigen ins Gespräch zu kommen, die bei der Gründungsversammlung unseres Vereins so heftigen Widerstand gegen den Versuch der Aufarbeitung der Geschichte des Lagers artikulierten.

Dass auch sie mitarbeiten bei der Suche nach der Wahrheit. Dass auch sie vielleicht über Bilder und Erlebnisse sprechen können, die sie unverschuldet belasten.

Auf die Suche nach der Wahrheit haben wir uns gemeinsam gemacht. Wenn wir sie dann kennen, haben wir ein weiteres Mosaiksteinchen gewonnen - für die Zukunft. Auf der Grundlage der Wahrheit können wir mit allen Kräften daran arbeiten, dass sich eine dunkle Gesichte wie die des Lagers Rollwald nicht wiederholt. Geschichte muss sich nämlich nicht zwangsläufig wiederholen, auch wenn manche das behaupten.

Wir sind keine Marionetten eines blinden Schicksals. Wir haben Hoffnung.

Meine persönliche Hoffnung, die kommt aus der christlich-jüdischen Tradition.

Und da lese ich beim Propheten Jeremia einen Vers, der mir in dieser dunklen Novemberzeit sehr viel Mut macht: Zu derselben Zeit wird man nicht mehr sagen: Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden.

Der Prophet Jeremia sagt dieses Wort in die wahrhaft trostlose Zeit des babylonischen Exils der Israeliten hinein.

Jeremia sagt im Auftrag Gottes, dass eine verfehlte Politik der Mächtigen in dieses Dilemma geführt hat: nämlich die Politik des Verlassens auf die eigene Stärke statt auf Gottes Hilfe.

Jeremia spricht diese Schuld seines Volkes ganz offen und schonungslos aus.

Und verspricht im selben Atemzug zukünftiges Heil. Nämlich eine Zeit, in der die Kinder nicht mehr stumpfe Zähne bekommen werden, weil die Väter saure Trauben gegessen haben.

Ein fantastisches Bild. Die sauren Trauben, das sind die Verfehlungen der Vergangenheit, die eine Macht über mich ausüben, auch wenn ich persönlich keinerlei Schuld daran trage.

Die stumpfen Zähne, die sind sozusagen mein Los als Deutscher, egal in der wievielten Generation nach dem Holocaust.

Und doch gibt es Hoffnung darauf, die Zähne wieder blank und strahlend zu kriegen: Indem ich die sauren Trauben nämlich nicht auf den Komposthaufen der Geschichte werfe, sondern mich wahrhaftig mit ihnen auseinandersetze.

Zu ihnen stehe als einem Teil meiner Vorgeschichte. Sie aufbewahre und sie nicht verleugne.

Zum Beispiel am Rollwald-Gedenkstein.