Vorstellung des Projektes durch die Autorin
Dr. Heidi Fogel
 
  Dr. Heidi Fogel Sehr geehrte Damen und Herren,

auf diesen Tag habe ich vier Jahre lang hingearbeitet - Jahre, in denen ich mich intensiv mit dem Lager Rollwald beschäftigt habe. Heute können wir auf 400 Seiten das Ergebnis dieser Arbeit präsentieren.

Als ich den Auftrag, die Geschichte des Lagers Rollwald zu erforschen, Anfang des Jahres 2001 übernahm, wusste niemand, wie groß der Lagerkomplex war, zu dem das Lager Rollwald gehörte, und wie facettenreich seine Entwicklung während des Zweiten Weltkriegs. Meine Recherchen waren aufwändiger als ursprünglich gedacht, aber die Arbeit hat mich auch die ganze Zeit über gefesselt. Mein Thema war kein erfreuliches, aber ein interessantes.
Es gibt wichtige Vorarbeiten zu dem Buch, das wir heute vorstellen.
 

  Die evangelische Jugend des Dekanats Rodgau hat vor mehr als 10 Jahren recherchiert und die Arbeitsergebnisse in einer beeindruckenden Ausstellung veröffentlicht.

Beachtliches geleistet hat außerdem insbesondere der früh verstorbene Nieder-Rodener Heimatforscher Heinz Sierian. Aus einer Arbeitsgruppe heraus, die zur Erforschung der Lagergeschichte ins Leben gerufen worden war, hat Heinz Sierian - um 1980 - in Stadt- und Staatsarchiven recherchiert und mit ehemaligen Gefangenen und Lagerbediensteten gesprochen. Trotz eingeschränkter zeitlicher und finanzieller Möglichkeiten hat er dabei die Grundzüge der Lagergeschichte in bemerkenswerter Weise erfasst und in einem Bericht festgehalten. Seine Arbeitsergebnisse sind in die ortsgeschichtliche Literatur über Nieder-Roden und über die Siedlung Rollwald eingegangen. Für mich waren vor allem Heinz Sierians Notizen über seine Gespräche mit Zeitzeugen eine wichtige Informationsquelle, denn die meisten Gefangenen und Lagerbeamten, zu denen Herr Sierian noch Kontakt aufnehmen konnte, sind heute längst verstorben.

Der Umgang mit dem Lager Rollwald war im Rodgau bis in die jüngste Zeit hinein schwierig und gab Anlass zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen. Im Detail wusste man zu wenig, Behauptungen über das Lager tauchten auf und wurden weitergetragen, ohne überprüft werden zu können. Vielleicht trübten manchmal auch eigene, vorgefasste Meinungen und Vorurteile den Blick.

Das Lager Rollwald war eines von drei Stammlagern der Gefangenenlager Rodgau. Zwei dieser Stammlager befanden sich hier in der Region, das Lager I im ehemaligen Kapuzinerkloster in Dieburg und das Lager II - Rollwald - in Nieder-Roden. Beide Lager wurden 1938 in Betrieb genommen. Das dritte Stammlager - ein Lager für polnische Gefangene- entstand erst 1942 in Eich bei Worms. Die drei Stammlager hatten eigene, häufiger wechselnde Außenlager im gesamten Rhein-Main-Gebiet.

Die Gefangenen mussten in allen Lagern in den ersten Jahren landwirtschaftliche Kultivierungsarbeiten leisten, in den späteren Kriegsjahren wurden sie in der Rüstungsindustrie, in Wehrmachtsbetrieben und bei der Reichsbahn eingesetzt.

In der Literatur und auch in der vor Ort geführten Diskussion um angemessene Formen des Erinnerns, wurden widersprüchliche Einschätzungen zum Charakter des Lagers vertreten. War das Lager Rollwald ein KZ oder war es eine ganz normale Vollzugsanstalt für kriminelle Rechtsbrecher?

Das Lager Rollwald war kein Konzentrationslager. Es war eine Strafvollzugseinrichtung der Justiz - eine Anstalt, in der rechtskräftig von Gerichten verurteilte Strafgefangene einsaßen. Aber das Lager Rollwald war eine Strafvollzugseinrichtung in einem Unrechtsstaat - einem Staat, der politisch Andersdenkende kriminalisierte und jede Äußerung unter Strafe stellte, die sich gegen den totalitären Machtanspruch des Nationalsozialismus und gegen den Krieg richtete. Eines Staates, der ethnische Minderheiten verfolgte und Lebensweisen bestrafte, die sich nicht in die „nationalsozialistische Volksgemeinschaft" einfügten, jenem Zwangskorsett von politischer und gesellschaftlicher Anpassung.

Insgesamt durchliefen mehr als 13.000 Menschen als Häftlinge die Gefangenenlager Rodgau. Unter ihnen waren viele Kleinkriminelle und einige Gewaltverbrecher. Ebenso aber auch politische Gegner des NS-Staates, Zeugen Jehovas und andere Kriegsgegner aus Glaubensüberzeugung. Außerdem Homosexuelle, Nichtsesshafte und Bettler. Und während des Krieges dann zahlreiche Ausländer, die sich gegen die deutsche Besatzungsmacht in ihren Heimatländern aufgelehnt hatten. Neben Straftätern, die auch in jedem Rechtsstaat verfolgt würden, gab es hier somit insgesamt mehrere Tausend politisch und religiös Verfolgte sowie gesellschaftlich Ausgegrenzte.

Die Quellenrecherche zum Lager Rollwald war ein aufwändiges Puzzlespiel. Ich musste nicht nur Puzzleteile zusammensetzen, sondern sie erst einmal aufspüren.

Fast 60 Jahre nach Kriegsende sind nur noch wenige ehemalige Gefangene und Lagerbeamte am Leben. Diejenigen, die damals noch jung genug waren, um nach menschlichem Ermessen möglicherweise heute noch zu leben, sind schwer zu finden, denn die Häftlinge kamen zunächst aus ganz Deutschland und Österreich und später aus ganz Europa. Glücklicherweise sind die Akten der Generalstaatsanwaltschaft Darmstadt - der Behörde, die den Lagern unmittelbar übergeordnet war - großenteils erhalten und im hessischen Staatsarchiv Darmstadt zugänglich. Von den Akten, die in den Gefangenenlagern selbst geführt wurden, sind nur Reste überliefert. Darunter ist die Häftlingskartei mit den persönlichen Daten und den Haftdaten von 10.000 Deutschen und Österreichern sowie von 500 Franzosen. Die Karteikarten der anderen ausländischen Gefangenen, schätzungsweise 3000 an der Zahl, sind nicht mehr auffindbar. Auch die weit ausführlicheren Gefangenenakten, die in Dieburg, Nieder-Roden und Eich geführt wurden, sind bis auf wenige Ausnahmen verschwunden. Sie wurden am Kriegsende oder später in den Verwaltungen vernichtet - genau lässt sich das heute nicht mehr rekonstruieren.

Um dennoch zu gesicherten Erkenntnissen über das Lager Rollwald zu gelangen, musste ich viele verstreute Informationen zusammensuchen - aus Erinnerungsberichten, aus Behördenakten, aus Protokollen von Gerichtsverhandlungen, aus Wiedergutmachungsakten und aus Fotoalben. Diese Puzzleteile ergaben schließlich ein doch recht klares Bild - sowohl von der baulichen Anlage und der Organisationsstruktur des Rollwaldlagers als auch von den Gefangenen und ihren Lebensbedingungen.

Das Buch stellt in zwölf Kapiteln dar

  • wie und warum das Lager gebaut wurde
  • welche Arbeiten die Gefangenen verrichteten
  • wie die Gefangenen in der Lagerhaft lebten und auch starben
  • wie sich die Haftbedingungen während des Krieges immer weiter verschlechterten
  • wer die Aufseher waren und wie sie die Lagerinsassen behandelten
  • und auf welche Weise die Häftlinge schließlich befreit wurden.

In den Einzelschicksalen von deutschen und von ausländischen Häftlingen, die wir festgehalten haben, wandeln sich die allgemeinen Aussagen und statistischen Angaben jeweils ins Konkrete. Sie bekommen Gesichter, Lebenswege und Familienangehörige.

400 Seiten hat das Buch. Das ist nicht wenig, dennoch musste ich an verschiedenen Stellen schmerzhafte Kompromisse machen und das Wünschenswerte dem Leistbaren unterordnen. Anfangs hatte ich mich dafür ausgesprochen, das Lager Rollwald nicht getrennt zu betrachten, sondern über die Gefangenenlager Rodgau insgesamt zu recherchieren. Denn das Lager Rollwald ist nur als Teil der größeren Einheit zu verstehen. Heute bin ich froh, dass mich die stärker lokalhistorischen Interessen meiner Auftraggeber gebremst haben. Denn ich hätte mich ansonsten in ein allein kaum realisierbares Mammutprojekt verstrickt.

Ich denke, wir haben einen annehmbaren Kompromiss gefunden. Die Gesamtverwaltung der Gefangenenlager wird - als organisatorischer Rahmen für das Lager Rollwald - detailliert dargestellt und auch über das Dieburger Stammlager wird ausführlich berichtet. Denn die Verbindungen zwischen den beiden Lagern in Nieder-Roden und in Dieburg waren sehr eng.

Bis auf einige Exkurse mussten jedoch die Außenstellen des Lagers Dieburg unerforscht bleiben und damit das Schicksal der einzigen weiblichen Häftlinge in den Gefangenenlagern Rodgau - der polnischen Frauen, die unter schlimmsten Lebensbedingungen in den Dieburger Außenlagern in Groß-Rohrheim, Offenbach und Hirzenhain Zwangsarbeit leisten mussten. Außerdem konnte ich das Stammlager Eich für polnische Männer nur ansatzweise mit einbeziehen.

Ein Spagat war es für mich schließlich, den unterschiedlichen Erwartungen gerecht zu werden, die das Forschungsprojekt wecken musste. Das Buch ist - das war ganz klar mein Auftrag - vor allem für die Menschen in der Region geschrieben. Da der Strafvollzug im NS-Staat aber ein noch junges Pflänzchen der Geschichtsschreibung ist und nur wenige Untersuchungen zu den Arbeitslagern der Justiz existieren, ist unsere Fallstudie auch für die historische Forschung - über die Region hinaus - interessant. Ich habe also zwei Adressaten - die an der Geschichte ihrer Heimat Interessierten und die Historiker-Kolleginnen und -Kollegen. Beide gehen mit unterschiedlichen Anliegen an eine solche Publikation heran. So wollen die Menschen im Rodgau durchaus genau wissen, wie das Lager Rollwald im Detail ausgesehen hat, über welche Straßen in der heutigen Wohnsiedlung es sich ausbreitete und wo die Wachtürme standen. Für meine Kolleginnen und Kollegen ist das von geringerer Bedeutung. Sie interessieren sich z. B. für die Frage, wie dieses Lager in den Strafvollzug des NS-Staates einzuordnen ist, wie in das System der Verfolgung weltanschaulicher Gegner und ethnischer, religiöser oder gesellschaftlicher Minderheiten, wie in das System der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg.

Ich habe diese zuletzt genannten Themen, die das Lager Rollwald in der Geschichte des nationalsozialistischen Strafvollzugs wissenschaftlich verorten, angerissen und Ausblicke gegeben. Aber meine Arbeit bleibt insgesamt - gemäß meines Auftrags - stark auf die Geschehnisse innerhalb des Lagers Rollwald konzentriert. Wissenschaftlich kann sie als ein regionalgeschichtlicher Beitrag und Baustein für noch zu leistende Gesamtdarstellungen zum nationalsozialistischen Strafvollzug verstanden und genutzt werden.

Ich bin zwar die Autorin des heute vorgestellten Buches, aber natürlich ist die Publikation mit Unterstützung vieler Menschen entstanden. Viele haben mir geholfen, Informationen und Material zusammenzutragen - Zeitzeugen oder Angehörige von ehemaligen Gefangenen, Archivare, Heimatforscher und interessierte Rodgauer.

Meine Auftraggeber haben mir einen sicheren Rahmen für die Arbeit gegeben und mir Geduld und viel Vertrauen entgegengebracht. Vorstands- und Beiratsmitglieder haben das Manuskript mehrfach Korrektur gelesen und wertvolle Verbesserungsvorschläge gemacht. Herr Krausch hat aus meinem Manuskript ein Buch gestaltet. Herr Lach, der alle Fäden des Projekts in der Hand hielt, hat sich am Telefon auch schon mal geduldig meine Probleme und meinen Ärger angehört.

Ich möchte mich bei allen Beteiligten herzlich bedanken.

Das Forschungsprojekt, das ich mit dieser Veröffentlichung aus der Hand gebe, hat mich über Jahre in seinen Bann gezogen. Ich wünsche mir, dass das entstandene Buch die Leser bewegt, sich mit der Geschichte vor der eigenen Haustür zu befassen. Und dass es vielleicht auch weiteres Interesse an geschichtlichen Zusammenhängen weckt.

Und ich hoffe, dass es in den weiterführenden Schulen in der Stadt Rodgau und in der Region Verwendung finden wird. Die Veröffentlichung soll junge Leute über eine nicht alltägliche Einrichtung des NS-Staates in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft unterrichten und dabei auch - das ist mir wichtig - einen Beitrag zur politischen Bildung leisten. Sie dokumentiert Ausschnitte aus der Existenz von Menschen, die dem Machtapparat eines faschistischen Staates ausgeliefert waren. Eines Staates, der Rassismus und Intoleranz zum gesellschaftlichen Prinzip erhoben, den Rechtsstaat ausgehöhlt und den politischen Pluralismus zerstört hatte. Das Buch fordert deshalb auch auf zur Auseinandersetzung mit unseren demokratischen Grundwerten und zum aktiven Einsatz für ihre Erhaltung.

Heidi Fogel